Ich hänge. Endlich frei. Seit ich von dem Stuhl heruntergesprungen bin. Die Wirbelsäule krachte. Der Lebensfilm lief. Das Licht am Ende einer langen Röhre wurde sichtbar. Die finale Erektion kam. Und jetzt? Die Ewigkeit oder was?
Ich baumle. Frei. Schade, dass ich von hier oben das Meer nicht sehen kann. War eine Fummelei, die Lampe von dem Haken loszumachen. Am höchsten Punkt des offenen Giebels wollte ich das Seil befestigen. Im Wohnzimmer unseres Ferienhauses in der Bretagne. Den Knoten bekam ich gut hin. Dank Segelkurs im letzten Sommer. Etwas gezittert haben meine Hände schon. Den Brief hatte ich doch noch verbrannt. Denken sollen sie selbst. Seltsames Gefühl, so ein Strang um den Hals. Wie bei den Scheinhinrichtungen, über die ich bei Amnesty gehört hatte. Meine größte Befürchtung war, dass das Seil nicht halten würde. Deshalb das lose Ende mehrfach um den Balken unterhalb des Dachstuhls geschlungen, zwei bewährte Seefahrerknoten verwendet. Konsequent bleiben. Wollte keiner sein, der nur ankündigt. Wenigstens das ziehe ich durch.
Ich schwebe. Frei beweglich. Wie das? Sehe mich von außen. Weit aufgerissene Augen. Das leichte Pendeln meines Körpers ist nach einigen Minuten einem Ruhezustand gewichen. Ich kann alles wahrnehmen und spüre nichts. Charlie hat mir davon erzählt. In seiner Parapsychologie-Phase. An der Grenze zwischen Leben und Tod kann sich der Geist vom Körper trennen. Was danach kommt, wisse allerdings keiner. Doch, Charlie: ich!
Der Herzschlag hat aufgehört. Das Gehirn schaltet langsam ab, Region für Region, Synapse für Synapse. Meine Hypophyse hat mir einen letzten Dienst erwiesen und ihre körpereigenen Opiate ausgeschüttet. Und zwar reichlich. So bin ich glücklich. Letztendlich. Will nie mehr zurück. Dass mich nur keiner jetzt findet. Denn die Tür hatte ich nicht abgeschlossen.
Sonne. Die letzten Strahlen. Gutes Timing. Da hängt mein Leib. Unser täglich Brot gib uns heute. Ein letztes Flackern. Von den Rändern her wird es schwarz. Ein finaler heller Punkt. Vorbei. Für Ewigkeiten. Alles ist Licht.
Und ich bin Geist. Schluck. Ohne Hülle? Ohne Materie? Werde ich mich völlig ungehindert im Raum bewegen können? Vielleicht sogar durch die Wand? Wie in den alten Spukgeschichten. Tatsächlich, ich werde durch die Mauer nach draußen gelangen. Werde außerhalb des Hauses stehen. Ich werde fliegen. Nein, ich werde einfach sein. Ich?
Unser bretonisches Ferienhaus. Aus grob behauenen Granitsteinen gemauert. Die einfache schwere Eichentür. Der Kiesweg zum Strand. Die Felsenküste. Und das nur scheinbar unendliche Meer. Ich werde darüber schweben. Wenn das meine Mutter sehen könnte! Die ihren Glauben durch alle Krisen bewahrt hat. Wie wird es werden, wenn die Eltern davon erfahren? In zwei Tagen müssten sie hier sein zum alljährlichen Familien-Sommerurlaub. Meiner Mutter wird es das Herz brechen. Mein Vater wird es nicht verstehen. Wie er mich nie verstanden hat. Mein Bruder wird es auf Amnesty schieben. Ich sei zu sensibel für so etwas, hat er behauptet.
Ob ich mich auch frei in der Zeit bewegen kann? Wie im Raum? Bis zu meiner Beerdigung würde ich gerne gehen. Da stehen sie auch schon. Auf dem Neuen Friedhof in Wetzlar. Pfarrer Bantele wird am offenen Grab sprechen. Der Sarg wird schon hinabgelassen worden sein. Meine Eltern werden in der ersten Reihe stehen, meine Mutter wird von meinem Vater links und meinem Bruder rechts gestützt werden. Dahinter Onkel Willi, einige entferntere Verwandte. Der komplette Kirchenvorstand wird zusammenstehen, gekommen wegen meiner Mutter, nicht wegen mir. Ebenso die Arbeitskollegen meines Vaters. Etwas abseits werden sich Freunde aus meiner Jugendzeit halten. Allen voran Ulf und Gianna. Dann Charlie mit Marlene. Wieso eigentlich nicht mit Elke, seiner aktuellen Freundin? Das mit Marlene ist doch schon länger vorbei. Und Charlie wird als Letzter ans Grab treten, nachdem alle Sand und Blumen auf mich hinabgeworfen haben. Gehalten von Marlene wird er die Schaufel tief in die Kiste mit Sand stecken und den mit einer heftigen Handbewegung auf den Sarg schleudern. Die Sonnenblume in der anderen Hand wird er hinterherfeuern. Und unter Tränen seltsam raukehlig schluchzen: „Du Schwein. Einfach so abzuhauen.“
Pech, Junge. Hätte ich doch den Brief nicht verbrannt. Schnell dorthin zurück. Vorbei an meinen leblosen von der Decke hängenden Überresten im Ferienhaus. Noch weiter. Da saß ich an dem kleinen Buchenschreibtisch mit der Schreibfläche aus grün gegerbtem Leder. Hatte beschlossen, zwei Briefe zu schreiben. Einen für meine Eltern, einen für Charlie. Seine Heinz-Rudolf-Kunze-Kassette, die er mir vor zwei Monaten geschenkt hatte, lief im Hintergrund. Das Ultimatum: „So sehen wir ihn am siebten Tag, er ist noch einmal frisch. Er öffnet die Gardinen, beugt die Knie. Er frühstückt in Ausführlichkeit, räumt alles sauber weg, er pfeift sich seine Lieblingsmelodie. Dann reckt er sich, dann streckt er sich, dann denkt er sich, jetzt wird es aber Zeit, er nimmt Papier, schreibt ‚q.e.d.’ darauf, holt sich einen starken Stuhl und einen starken Strick und hängt sich ohne Augenschließen auf.“
Quod erat demonstrandum. Was zu beweisen war.
Die Idee, diesen Text zu hinterlassen, verwarf ich wieder. So etwas hatte schon ein Mitschüler in der 11. gemacht, der von Ludwig Hirsch „Komm großer schwarzer Vogel“ abgeschrieben hatte, bevor er Schlaftabletten nahm. Selbstmord-Kitsch. Nein, die Briefe sollten genügen. Wie konnte ich alles so zusammenfügen, dass es einen Sinn ergab? Jeder sollte es verstehen können. Nicken, sagen, dass es wohl die einzige Möglichkeit war. Ich wollte, dass sie verstehen, warum ich dieses Urteil in eigener Sache gesprochen habe. Aber worum ging es mir? Sollten sie ihren Anteil erkennen? Ihre Schuld? Was waren meine wirklichen Motive? Ich weiß es selbst nicht mehr. So werde ich nun als Kommissar in eigener Sache ermitteln.
Schwebe vom Wohnzimmer durch die geschlossene Tür auf die Terrasse des Ferienhauses. Die Wellen rauschen. Die Sonne lässt das Meer glitzern. Dunkle Wolken werden herangetrieben. Die Möwen kreischen. Drinnen hänge ich. Bluejeans, feste Wanderschuhe. Ein rotes T-Shirt mit der Aufschrift „Bis hierher und nicht weiter“.
Draußen suchen die Fußfischer wie jeden Tag im von der Ebbe freigegebenen Watt nach Krebsen, Muscheln und anderem Meeresgetier. Mit bloßen Händen oder professionell mit Spaten und Schaufeln. Je geschickter sie graben, desto mehr werden sie zutage fördern. Wenn sie an der richtigen Stelle schürfen.
Pendel
Mein Körper hängt still. Ruht das Meer. Wo anfangen? Früh. Wie durchkommen? Erinnere mich an die alte Mona, die ich im Bahnhofsviertel aufgesucht hatte. Empfehlung von Carolyn. Die konnte pendeln. Der Geist steuert die Materie, die Gedanken bestimmen die Richtung.
Will durch mein Leben pendeln. Der Geist bestimmt. Langsam beginnen. Mikrobewegungen. Immer deutlicher werdend. Hin und her, her und hin. Komme in Schwung. Habe es vorher nie selbst versucht. Und es funktioniert. Empirischer Nachweis, Wirkung schlägt Skepsis.
Schaukele mich auf. Immer höher. Die Zeit rast. Relativ und kalenderrückwärts. Farben, Orte, Gebäude, Menschen. Am höchsten Punkt wird alles klar. Let’s go.